Die Krankheit
Bericht von
Marlies Röser

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Marlies Röser
Ein Familienleben mit Mukoviszidose


Die Diagnose
Schulkindergarten und zweiter Krankenhausaufenthalt
Schule
Weitere Krankenhausaufenthalte und Medikationen
Kur und Freunde
Der 29. Oktober 1997
Der Abschied

Die Diagnose
Angefangen hat alles im August-September 1984. Jan war ständig schlecht drauf, müde, schlapp und nörgelig. Wir waren ständig beim Kinderarzt. Bis es dann soweit war, dass Jan keine Treppen mehr steigen konnte. Das war für die Ärztin ein Alarmsignal. Wir bekamen eine Einweisung in das Krankenhaus Heidberg (nahe Hamburg) Dort fand man eindeutige Zeichen für eine doppelseitige Pneumonie (= Lungenentzündung). Das sind:

1. Nasenflügeln,
2. Einziehungen am Hals und
3. Einziehungen am letzten Rippenbogen.

Die Ärzte im Krankenhaus wunderten sich, dass Jan über die ganze Zeit hinweg kein Fieber hatte. Bald eröffneten mir die Ärzte ihren Verdacht: Eine Stoffwechselstörung könne der Grund für diese Lungenentzündung sein. Es kämen zwei Varianten in Frage. Der ersten – der Zöliakie – war ich in meinem Beruf als Kinderbetreuerin schon begegnet, ich kannte ein betroffenes Kind. Die zweite Variante – die Mukoviszidose kannte ich vom Namen her, aber ich wusste keine Einzelheiten. Die Ärzte wollten mir dazu aber noch nichts Genaueres sagen. Es wurden Blutuntersuchungen gemacht, Röntgenbilder angefertigt und ein Schweißtest durchgeführt. Dieser Test stellte schon mal klar: Es ist keine Zöliakie. Um nun volle Sicherheit zu erlangen, sollte im Universitätsklinikum Eppendorf eine Darmbiopsie (Anmerkung: Entnahme einer Gewebeprobe mittels Darmspiegelung, CG) durchgeführt werden. Mir war nicht wohl bei der ganzen Sache. Jan hatte im Heidberg-Krankenhaus schon Beruhigungsmittel bekommen, und er bekam im Universitätsklinikum noch mal eine Spritze. Ich durfte nicht mit in den Untersuchungsraum. Das Ergebnis kam im Verlauf des Nachmittages. Die Ahnung der Ärzte hatte sich bestätigt: Es war Mukoviszidose.
Von nun an musste Jan 4x täglich „Pankreon“ trinken. (Anmerkung: Das sind Enzyme in Form von kleinen rosa Perlen, die aufgelöst werden müssen. Das Medikament unterstützt die Verdauung der Nahrungsfette, denn es gehört zum Krankheitsbild, dass die Sekret bildenden Drüsen wie Galle und Pankreas (= Bauchspeicheldrüse, CG) nicht richtig arbeiten. Ich machte ihm seinen rosa Trunk in einer kleinen Babyflasche fertig und Jan legte sich auf den Fußboden und trank sie in einem Zug leer. Nachts habe ich ihm seine Flasche ans Kopfende gestellt und sie war morgens ausgetrunken. Hinsichtlich der Ernährung gestaltete sich alles erheblich schwieriger. Niemand konnte mir genau sagen, was Jan essen durfte oder konnte! Man sagte mir nur was er muss: Er müsse auf alle Fälle zunehmen, durfte aber keine „Fettstühle“ bekommen. (Anmerkung: Fettstühle entstehen dadurch, dass der Enzymhaushalt gestört ist und das Fett unverdaut wieder ausgeschieden wird und damit lebenswichtige Stoffe aus der Nahrung nicht genutzt werden können, CG).
Damals wusste ich noch nicht, dass man die Enzymgabe nur erhöhen muss, wenn mehr Fett in den Mahlzeiten vorhanden ist. Es konnte mir niemand, auch keiner der Ärzte, eine Art „Faustregel“ geben. Ich bekam immer nur zu hören: „Ihr Sohn muss zunehmen“. Ich mischte die Medikamente unter das Essen, zunächst von Jan unbeobachtet. Doch im Laufe der Zeit hat er es natürlich mitbekommen. Das Ergebnis meiner Heimlichkeit: Er aß meine Zubereitungen nicht mehr. (Anmerkung: Vermutlich hat Jan hier seine Mutter als Verbündete der Ärzte „gegen“ ihn gesehen und so seine einzige mögliche „Gegenwehr“ in der Verweigerung gesehen, CG). Also habe ich es wieder weggelassen, was mir wiederum die Schelte der Ärzte eintrug.

Von 1984 - 1986 waren wir alle sechs bis acht Wochen zur Untersuchung in der Universitätsklinik Eppendorf. Ende 1986 verließ ein renommierter Arzt das Krankenhaus und wir entschlossen uns auch zu diesem Schritt. Anfang 1987 meldete ich Jan bei einem Arzt mit dem Spezialgebiet „Mukoviszidose“ an. Bei der ersten Untersuchung war alles ganz toll. Jan und der Arzt verstanden sich recht gut. Leider stellte sich heraus, dass Jan schon eine geraume Zeit unter einer Pilzbesiedelung litt. Er musste erneut ins Krankenhaus! Dieses Mal ging es ins Allgemeine Kinderkrankenhaus nach Altona. Mir graute davor, im Krankenhaus schlafen zu müssen. Doch Jan war einverstanden, dass ich abends nach Hause fahren könne. Ich bin dann aber doch mit einem schlechten Gewissen gefahren. Am nächsten Tag wurde mir gesagt, dass Jans Herz entlastende Medikamente bekommen müsse. „Das geht ja gut los“, dachte ich mir, „was als nächstes wohl kommt?“ Jan nahm es sehr gelassen. Nach zwei Wochen Krankenhaus-Aufenthalt fuhr ich mit ihm erleichtert nach Hause, allerdings mit einem bitteren Nachgeschmack: Wann ist der nächste Krankenhausaufenthalt fällig? Inzwischen nahm Jan einmal pro Woche an der Krankengymnastik teil und inhalierte regelmäßig. Beides sollte dazu beitragen, den festsitzenden Schleim in den Lungen zu lösen.


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Der 29. Oktober 1997
Der Abschied


Schulkindergarten und zweiter Krankenhausaufenthalt
Meine Angst, dass Jan sich ständig irgendwelche Krankheiten holen würde, wenn er im Schulkindergarten wäre, hat sich nicht bewahrheitet. Kam es später doch einmal vor, dass ich ihn zu Hause behalten wollte, so hat Jan Tränen vergossen. Doch zunächst zum Ursprung: Ich hatte zunächst die Befürchtung, sämtliche Krankheitskeime würden sich sofort übertragen. Bei Feststellung der Krankheit hatten mir die Ärzte ja auch gesagt, dass sich jede einfache Erkältung schnell zu einer Lungenentzündung entwickeln könnte. Auch ganz normale Kinderkrankheiten wären für Jan nicht so einfach „abzuhaken“. Also habe ich mich entschlossen, ihn vorerst zu Hause zu behalten. Nach Ablauf des Mutterschutzes wechselte ich auf meiner Arbeitsstelle in die Nachtwache. Diese Arbeit als Teilzeit-Nachtwache war für mich ideal. Ich habe eine Woche gearbeitet und hatte anschließend drei Wochen frei. In dieser einen Woche war Jan bei seinen Großeltern, die er sehr liebte. In den anderen drei Wochen konnte ich mich um ihn kümmern. Bei uns hatte er dann auch die Nachbarskinder, mit denen er spielen konnte.
Meine Gedanken waren deshalb: „Warum soll er in den Kindergarten? Warum soll er nicht bis zum Schulanfang zu Hause bleiben. Früh aufstehen muss er dann noch lange genug.“ 1988 kam der Tag der Einschulungsuntersuchung. Ich plädierte aufgrund der Krankheit für einen Besuch der Vorschule. Jan war für sein Alter sehr zart und klein. Es würde also gar nicht viel auffallen, wenn er schon ein Jahr älter ist als seine Klassenkameraden. Da allerdings nur ein Kind in die Vorschule kommt, das noch nicht „schultauglich“ erscheint, musste Jan einen Test über sich ergehen lassen. Zu diesem Zeitpunkt fühlte er sich nicht wohl. Nach dem Test meinte auch die Leiterin, dass ein Besuch der Vorschule anzuraten sei. Sie schloss sich meinen Gedanken an.

Bereits während der Vorschulzeit habe ich viele Bedenken über mögliche Erkrankungen und die Ansteckungsgefahr über „Bord geworfen“. Jan hat sich weniger bei den Kindern angesteckt, als von mir zuvor vermutet. Die Zeit verlief recht gut. Es hat ihn nur erheblich genervt, dass ich ihn bei sämtlichen Ausflügen begleitete. Ich hielt mich zwar im Hintergrund, aber ich war eben dabei. Es nervt jedes Kind, wenn es ständig einen Elternteil „im Nacken“ hat. Leider ließ es sich nicht anders machen. Die Strecken, die während der Klassenausflüge zurückgelegt wurden, waren nicht sonderlich weit. Trotzdem konnte Jan aufgrund seiner Erkrankung das Tempo nicht durchhalten. Also nahm ich mein Fahrrad mit und schob es hinter der Gruppe her. Wenn Jan die Kräfte verließen, hat er sich auf das Rad gesetzt. Natürlich hat er versucht, bis zuletzt durchzuhalten. Ist er in der Gruppe dann allmählich immer weiter zurückgefallen, kam er von ganz alleine an, und wir sind bis zur Spitze aufgerückt. Die Leiterin der Vorschule hatte sich über Mukoviszidose erkundigt. Das Nötigste hatte ich ihr am Anfang auch schon erzählt. Es ist für Unbeteiligte immer wieder beängstigend, bei einer Hustenattacke zu zuschauen, wenn man nicht weiß, was dahinter steckt. Sie und die Sportlehrerin haben sich dann jedes Mal wieder sehr erschrocken, wenn Jan eine solche Attacke hatte. Es kam vor allem zu solchen Anfällen, wenn Jan in der Pause viel getobt hatte, oder auch beim Sport. Gab es einmal einen sehr lustigen Vorfall, kamen Lachen und Husten fast zur gleichen Zeit. Bei sportlichen Veranstaltungen hat Jan nur das mitgemacht, was er konnte. Meistens waren es Helferposten, die er erledigte. So maß er zum Beispiel beim Weitsprung die Länge. Jan selbst wusste schon, wie weit er gehen konnte. Auch wenn er manchmal - für mein Gefühl - ein wenig zu lange wartete, bis er sich endlich ausruhte. Das war zu Hause nicht viel anders, als in der Schule. Die ganze Vorschulzeit verlief ganz gut. Während dieser Zeit musste Jan einmal für die Dauer von zwei Wochen ins Krankenhaus.

Jan bei der Atemgymnastik

Als Jan das nächste Mal ins Krankenhaus kam, musste er zunächst auf eine Station mit Inkubationszimmer. Er hatte kurz zuvor Kontakt mit einem an Windpocken erkrankten Kind Kontakt gehabt. Die Inkubationszeit beträgt drei Wochen. Damit er sich in den ersten Nächten nicht so „abgeschoben“ vorkam, schlief ich zwei oder drei Mal dort. Später konnte ich dann wieder in „meinem“ Bett schlafen. Die Schwestern haben sich ganz rührend um Jan gekümmert. Er fand es nach einiger Zeit nicht mehr nötig, dass ich jeden Tag zu ihm käme. So richtete ich bald meine Besuche nach dem Dienstplan einer von Jan besonders geschätzten Krankenschwester aus. Hatte sie Dienst, so verzichtete ich auf meinen Besuch. Das war ihr zunächst natürlich peinlich. Ich erklärte ihr aber, dass es mir nichts ausmachen würde. Ich war doch froh, dass er sich in ihrer Obhut so wohl fühlte.


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Der 29. Oktober 1997
Der Abschied

Schule
Die Schulzeit verlief in den ersten beiden Jahren sehr erfolgreich. Einige Kinder kannte Jan bereits aus der Vorschulklasse. Die neuen Kinder kamen teilweise aus seiner Nachbarschaft. Seine Probleme bemerkten die Mitschüler schnell. Einige amüsierten sich natürlich über seine Hustenattacken. Dann setzten sich aber andere Kinder für ihn ein, sie „beschützten“ ihn. Das habe ich erst viel später erfahren. Damals fand ich, dass ihn die Lehrerin der ersten Klasse viel zu vorsichtig behandelte. Das änderte sie dann aber schnell. Beim Wechsel in die dritte Klasse bekamen die Kinder eine neue Lehrerin.
In der vierten Klasse sollte es dann eine Klassenfahrt geben. Ich bot der Lehrerin meine Begleitung an. Doch von meinem Angebot wollte sie nichts wissen. Vier bis fünf Wochen vor der Klassenfahrt wollte sie Jan nicht mehr mitnehmen. Das Risiko sei ihr zu groß. Ich bot ihr nochmals an, mitzufahren. Dann wollte sie uns beide aber nicht mit in der Jugendherberge untergebracht wissen. Wir sollten uns außerhalb der Jugendherberge eine Unterkunft suchen. Da ich mich diesem Gedanken nicht anschließen wollte, habe ich den Schulelternrat einbezogen. Nachdem dieser zu Gunsten Jans entschied, ging die Lehrerin zum Schulrat. Doch auch er entsprach meiner und Jans Bitte. Schließlich „musste“ ich in der Jugendherberge schlafen und die Ausflüge begleiten. Das blieb auch das einzige größere Problem während der Grundschulzeit.
Auch während der zwei Jahre in der Orientierungsstufe gab es keine großen Ärgernisse. Bei einer Klassenfahrt sagte mir die Lehrerin ohne Umschweife, dass Jan natürlich mitkommen müsse. Ich solle nur für einen Rollstuhl sorgen. Kein Problem. Ein Rezept vom Arzt geordert, und der fahrbare Untersatz war bereit. Ich begleitete Jan während dieser Reise nicht. Ich kann nur als sehr positiv bezeichnen, was ich anschließend über den Verlauf der Fahrt erfuhr. Die Schulkameraden „rissen“ sich um das Schieben des Rollstuhls, nahmen Rücksicht auf Jans Beschwerden und halfen ihm, wo sie nur konnten. Jan kam gutgelaunt und bestens erholt wieder. Seine Medikamente und das Inhaliergerät standen während der Klassenfahrt im Betreuerzimmer. So waren die Geräte vor „Missbrauch“ geschützt und man hatte „ein Auge“ auf ihn geworfen. Es war für uns beide eine super Woche gewesen. Ich hatte frei, Jan hatte „freie Bahn“ und keine kontrollierenden Augen im Rücken.

Unterstützung von Mitschülern kam auch hinsichtlich Jans Sammelleidenschaft.

Ab der 7. Klasse besuchte Jan die Hauptschule. Das passte ihm anfangs gar nicht, denn er wäre lieber auf die Realschule gegangen. Die Lehrerin erklärte mir, dass er es schaffen könne, doch einen Gefallen würde man Jan damit nicht tun. Da er zweimal im Jahr im Krankenhaus war und einmal zur Kur fuhr, war die Gefahr sehr groß, dass er zuviel versäumen würde und nur „büffeln“ müsse. Es würde ihn zusätzlich viel Freizeit kosten. Das musste ich Jan klar machen. Seine beiden Freunde aus der Grundschulzeit würden auf eine andere Schule gehen. Doch ehe ich mich versah, hatte sich Jan damit abgefunden und war damit einverstanden. Er wusste nämlich inzwischen, wer noch mit ihm auf die Hauptschule wechseln würde. Klassenkameraden aus der Grundschulzeit waren auch dabei. Bei diesen Mitschülern konnte er sich sicher sein, genauso den „Schutz“ zu haben, wie zu jeder anderen Zeit auch. Die beiden folgenden Schuljahre verliefen ohne große Hindernisse. Die meisten Dinge regelte Jan seit geraumer Zeit selbst.

Nur einmal gab es in dieser Zeit Ärger mit dem Klassenlehrer. Im Religionsunterricht mussten die Kinder Stichpunkte über ein zu haltendes Referat aufschreiben. Diese Zettel konnten sie in der Klasse an der Pinwand befestigen. Jan wollte über seine Krankheit referieren. Da fehlte natürlich auch das Wort „Tod“ nicht. Dieses Wort war für Jan aufgrund seiner Erkrankung immer vorhanden. Er beschäftigte sich mit diesem Thema. Dem Lehrer passte der Zettel allerdings überhaupt nicht. Er nahm ihn von der Pinwand schmiss ihn weg. Jan kam entrüstet nach Hause. Er erzählte mir, dass s e i n Klassenlehrer s e i n e n Zettel abgemacht habe. Der Lehrer habe gemeint, das Wort „Tod“ solle nicht so offensichtlich auf dem Zettel an der Klassenwand hängen. Für die Mitschüler wäre es doch nicht so schön, das Wort jeden Tag lesen zu müssen. Da die meisten Mitschüler wussten, was Jans Krankheit bedeutete, war das für Jan und mich doch eine sehr dumme Ausrede. Ich redete mit diesem Lehrer am nächsten Tag, vor Schulbeginn, ein paar deutliche Worte und war dabei recht wütend. Auch einige Lehrerkollegen unterstützten mein Eingreifen. Jan und ich hatten nie wieder Probleme mit diesem Lehrer. In den ganzen Schuljahren waren es nur diese beschriebenen Kleinigkeiten, bei denen ich glaubte, eingreifen zu müssen.
Ab der 8. Klasse musste Jan dann auch Sauerstoff mit in die Schule nehmen. In den Pausen hat er sich in das Erste Hilfe-Zimmer gesetzt und über die Nasenbrille Sauerstoff für die nächste Stunde „getankt“. Wenn er wollte, durfte er sogar noch jemanden mitnehmen, damit er dort nicht so alleine war. Das Abschlusszeugnis aus der 8. Klasse war für Jan richtig aufbauend. Er gehörte nicht mehr zum „Mittelfeld“, sondern stand ganz vorne im Klassenverbund. Das motivierte ihn sehr, in die 9. Klasse zu wechseln. Leider hat er aufgrund seines Krankheitsverlaufes dann nur noch einen Monat in dieser Klasse miterlebt.
Bei den Krankenhausaufenthalten, die in die Schulzeit fielen, kam immer ein dicker Briefumschlag auf den jeweiligen Stationen für Jan an. Jeder Schulkamerad hatte dann einen Brief hineingelegt. Mal war es ein Vers, mal eine ganze DIN A4-Seite. Für mich war das immer wieder ein Zeichen, dass Jan in der Klasse nicht als störend empfunden wurde und dass er nicht unbeliebt war. Es war ein sehr schönes Gefühl für Jan, dass auch außerhalb der Schule an ihn gedacht wurde.


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Der 29. Oktober 1997
Der Abschied

Weitere Krankenhausaufenthalte und Medikationen
Nach den ersten beiden Krankenhausaufenthalten in den Jahren 1986 und 1988 ging es im Jahr 1989 mit den regelmäßigen Krankenhausaufenthalten erst richtig los. Die ersten Einweisungen waren für mich dramatischer, als für Jan. Er hat nur getrauert, weil dann ja die Schule für ihn ausfiel. Ich hatte da ganz andere Bedenken: „Wie lange muss er dort liegen? Bekommt er alles, was er braucht? Wie lange hält die i.v.-Therapie vor? (Anmerkung: bei einer intravenösen Therapie werden flüssige Medikamente über einen Zugang direkt in eine Vene verabreicht, CG). Wie oft und in welchen Abständen braucht er sie?“
In den nächsten Jahren lag Jan jeweils höchstens 14 Tage im Krankenhaus, die Antibiotika schlugen noch gut an. Doch im Laufe der immer wieder kehrenden Behandlungen waren einige Keime resistent geworden. Es mussten immer wieder andere Medikamente herangezogen werden. So verlängerte sich der Aufenthalt im Laufe der Jahre von zwei auf drei und zuletzt auf bis zu sechs Wochen. Mir fiel es im Laufe der Zeit immer leichter, die Krankenhausaufenthalte zu akzeptieren. Denn nach jedem Klinikbesuch kehrte Jan wieder voll einsatzfähig zurück. Die Aufenthalte haben sich meistens auf das Frühjahr und den Herbst beschränkt Er hatte es schnell gelernt, sich mit den Ärzten selber über seine Behandlung zu einigen. Zum Beispiel konnte er über eine gute Lage des „Yelko“ - den Zugang für die i.v.-Therapie - mit den behandelnden Personen reden. Die Klinik war sein zweites Zuhause geworden. So konnte ich abends beruhigt nach Hause fahren, ohne mir große Gedanken machen zu müssen. Es wurde alles eingepackt, von der Mini-Stereoanlage und seiner geliebten Videokamera bis zu den Schulbüchern.

Es gab aber auch eine Zeit, in der ich Jan überreden musste, ins Krankenhaus zu gehen. Ich habe im Laufe der Jahre gemerkt, wann es ihm schlechter ging. Dabei hat er dann zum Beispiel bei jeder Gelegenheit seinen Kopf auf den Tisch gelegt: Beim Inhalieren, beim Essen oder sogar bei seiner Lieblingsbeschäftigung: dem TV gucken.


Jan im Krankenhaus, 1991/92

Es hatte auch etwas Gutes für mich, wenn er in sein zweites Zuhause umzog. Diese Zeiten habe ich dann genutzt, etwas nur für mich alleine zu machen. Bei den ersten Aufenthalten war ich jeden Tag zu ihm gefahren. Ich habe dann auch oft in seinem Zimmer gesessen, während er auf der Etage mit den Schwestern hin und her lief. Doch Jan brauchte am Anfang diese Gewissheit: Mama ist da! Wenn dann jemand etwas von ihm wollte, ob Schwester oder Arzt, brauchte er meine Gegenwart als Verstärkung. Vielleicht auch nur, um seinen Wünschen mehr Nachdruck zu verleihen. So hat er im Verlauf der Zeit immer mehr Selbstsicherheit gewonnen und seine Behandlung selber mit den Ärzten besprochen. Bei meinen Besuchen berichtete er mir regelmäßig von seinen Debatten mit den Ärzten. Viel hatte ich im Laufe der Jahre nicht mehr dazu zu sagen, weil er - auch in meinen Augen - gute Entscheidungen getroffen hatte. Über seine Kenntnisse auf dem Gebiet der Medizin – was seine Krankheit betraf - waren bald auch seine Ärzte erstaunt.
Allmählich löste sich Jan auch von meinen „Rockzipfel“. Wenn bestimmte Schwestern Dienst taten, geriet ich bald zur Nebensache. Eines Tages fragte er mich, ob ich traurig wäre, wenn ich am nächsten Tag einmal gar nicht käme. Also hatte ich einen freien Tag, den ich ohne schlechtes Gewissen genoss. So war auch ich wieder voll einsetzbar, wenn Jan wieder in seiner „Hauptwohnung“ ankam. Außerdem tat es gut, die Verantwortung für Medikamente, inhalieren usw. einmal abgeben zu können.

Lehrer gibt es in einem Kinderkrankenhaus natürlich auch. Meistens hatte Jan während der ersten Tage Schonzeit, es hat mit der Konzentration dann noch nicht geklappt. Doch spätestens in der zweiten Aufenthaltswoche begann der Unterricht. Ich bekam von der heimatlichen Schule Aufgaben, die im Krankenhaus durchgenommen wurden. So war Jan meistens auf dem Laufenden, was den Unterrichtsstoff betraf. Oft kam es aber auch vor, dass er in Teilbereichen schon weiter war, als seine Klassenkameraden. Das war der Vorteil durch den Einzelunterricht.

Zur Entlastung seines Herzens bekam Jan nachts Sauerstoff. Wir bekamen einen so genannten „Konzentrator“. Diese Maschine hat den Sauerstoffanteil aus der Raumluft „konzentriert“. Sie hat Geräusche von sich gegeben, an die man sich erst gewöhnen musste, die bald für Jan sogar zur Einschlafhilfe wurden.
Während unserer Reisen transportierten wir im Auto eine entsprechende Sauerstoff-Flasche, denn in den letzten drei Jahren benötigte Jan auch tagsüber seine Sauerstoff-Rationen. Im letzten dreiviertel Jahr hatten wir eine Maschine angeschafft, an dem wir die transportable Flasche aufladen konnten. Diese Flasche war wesentlich angenehmer zu handhaben, und so konnte er damit auch allein zu seinen Freunden gehen. Die Technik bescherte ihm hier also ein wenig Unabhängigkeit. Durch das ständige Legen neuer venöser Zugänge, waren Jans Venen bald schlecht zu finden.

  Es blieb nur eine Möglichkeit, diesem Übel zu Leibe zu rücken, Jan bekam einen „Port“ (Anmerkung: ein „Port“ wird in eine große Körpervene eingelegt und unter die Haut platziert. Da dieser Zugang durch Bewegung nicht verrutschen kann, ist er lange haltbar, CM). Es musste nun nicht an jedem zweiten Tag ein neuer Zugang gelegt werden, was jedes Mal auch mit Schmerzen verbunden war.

 

Von den Ärzten bekam Jan oft zu hören: „Du hast wieder nicht zugenommen.“ Da Jan nicht bereit war, sich dieses noch länger anzuhören, entschied er sich für eine Magensonde. Zur nächtlichen Ernährung schob er sich abends die Sonde selbst durch die Nase und eine stark kalorienhaltige, flüssige Nahrung lief aus einem Beutel über die Sonde in den Magen. Am Anfang nahm er sehr gut zu. Nach einer gewissen Zeit ging es zunehmend schleppender, doch er nahm immerhin etwas zu. Da ich als Mutter vom Arzt immer wieder hörte, dass er unbedingt zunehmen müsse, gab es in der ersten Zeit zwischen Jan und mir oft Spannungen. Ich hatte dann mit der Psychologin des Krankenhauses einige Gespräche. Sie halfen mir sehr. Ich fing an, mir Gedanken über andere Sachen zu machen: „Wie hätte ich als Kind reagiert, wenn ich das alles hätte machen müssen? Trotz seiner chronischen Erkrankung denkt und fühlt Jan doch wie die anderen Kinder in seinem Alter!“ Ich versuchte nun, ihm die Notwendigkeit bestimmter Aspekte so verständlich zu machen, wie ich es vielleicht als Kind gerne gehabt hätte. Das war im Übrigen nicht nur in medizinischen Dingen, sondern auch im alltäglichen Leben gut anwendbar. Ich musste nur wieder lernen, mich in meine Kindheit hineinzudenken.


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Kur und Freunde
Der 29. Oktober 1997
Der Abschied

Kur und Freunde
Als mich der Arzt im Jahr 1988 das erste Mal auf eine Kur für Jan ansprach, hatte ich - wegen meiner Angst vor eventuellen Infektionen - noch große Vorbehalte. Meine Meinung hat der Arzt akzeptiert. Ich erklärte ihm: „Wenn Jan acht Jahre alt ist, komme ich noch mal auf die Kur zurück.“ Warum ich gerade dieses Datum ins Auge gefasst hatte, weiß ich nicht mehr. Es war eine so genannte „Bauchentscheidung“. Im Spätsommer 1989 bekam ich vom Arzt eine Empfehlung für eine Kur auf der Insel Amrum. Wir bekamen dann eine Aufforderung vom Amtsarzt, zu einer Untersuchung zu erscheinen. Und er gab grünes Licht für eine Kur, die dann im Sommer stattfand. Für die Kennzeichnung seiner Kleidung bestellte ich 100 gestickte Namenszüge. Diese Schilder haben sämtliche Waschgänge, das Heraustrennen und wieder in neue Sachen einnähen, überstanden. Da Jan nicht sehr schnell gewachsen ist, habe ich nur etwa alle zwei Jahre neue Sachen kaufen müssen.
Jan war zwischen 1990 bis 1992 und 1995 bis 1997 insgesamt sechs Mal zur Kur. Ich war jedes Mal dabei. Bei jedem Aufenthalt habe ich andere Leute und neue Methoden kennen gelernt. Jeder sah die einzelnen Sachen anders: Ob es um die Medikation, ums Inhalieren oder um den Alltag im Allgemeinen ging. Es gab während der jeweiligen sechswöchigen Aufenthalte immer wieder neue Ansichten, Einsichten und Erkenntnisse der Wissenschaft. Jan hat sehr viele Gleichgesinnte und Betroffene kennen gelernt. Daraus sind auch lange Brieffreundschaften entstanden. Nach den ersten drei Jahren hatte Jan von den Kuren „die Nase voll“ und wollte aussetzen. Dann bat ihn ein ebenfalls erkranktes Mädchen, mit ihr eine Kur zu machen. Sie hatte alleine keine Lust. Jan hatte dieses Mädchen bei einem Krankenhausaufenthalt kennen gelernt. So stellten wir einen Kurantrag für den Aufenthalt im Sommer 1995. Leider verstarb das Mädchen noch vor Antritt der gemeinsamen Kur. Trotzdem trat Jan die Kur an. Ich hatte wieder versucht, meinen Urlaub so zu legen, dass ich ihn wieder begleiten konnte. Diesmal klappte es nicht. Ich musste während des Kurverlaufes vier Tage arbeiten. Damit Jan auch in dieser Zeit die Ausflüge mitmachen konnte, blieb eine Bekannte bei ihm. Nach den Aufenthalten auf Amrum ging es Jan immer wieder sehr gut.


Jan bei einer Kur im Jahr 1992



1992, Training auf dem Laufband.

Bereits in der ersten Klasse hatte sich Jan mit zwei Jungen angefreundet. Es waren Zwillinge. Dachte ich zunächst: „Oh je, bei dreien ist einer zuviel.“, so musste ich das ganz schnell vergessen. Die drei haben sich sehr gut verstanden. Die beiden Freunde blieben dabei, schauten zu oder unterhielten Jan, wenn er während des Spiels einmal Inhalieren oder eine Atemdrainage (Anmerkung: festsitzenden Schleim in den Lungen lösen, CG) vornehmen musste. So wurden selbst diese sehr notwendigen Vorgänge für Jan nicht zur Last bzw. zur Qual, sie führten nicht zur Ausgrenzung. Bei den Schulausflügen blieben die Freunde mit Jan am Schluss der Klasse, wenn er nicht mehr konnte. Oder sie trugen seinen Rucksack, wenn er eine Hustenattacke bekam. Auch bei den Fahrradausflügen - ob privat oder auch nicht -, sie blieben mit Jan zusammen. Ganz bestimmt hätten sie an der Spitze mitfahren können. Im Laufe der Jahre kamen mir immer öfter die Gedanken, wie man es diesen beiden Jungen schonend beibringen könne, wenn Jan einmal stirbt. Ich weiß nicht, ob ein Kind merkt, wenn es einem Anderen schlechter geht. Oder ab welchem Alter es mitbekommt, wann sich ein Gesundheitszustand verschlechtert. Die Zwillinge waren bei jedem Krankenhausaufenthalt mindestens einmal zu Besuch. Manchmal auch öfter, es kam auf die Länge des Aufenthaltes an.


Jan mit seinen Freunden, dem Zwillingspaar.

Im Jahr 1996 mussten wir uns einen anderen Arzt suchen, weil der bisher behandelnde Doktor eine neue Stelle antreten wollte. Jan und ich waren sehr traurig, als er es uns mitteilte. Wir hatten von einer Klinik gehört, in der erwachsene Mukoviszidose-Kranke betreut wurden. Da Jan nun schon fast 14 Jahre alt war, wollten wir es dort versuchen. Wir holten uns also einen Termin. Wieder fiel die Schule für Jan aus. Leider hatten wir uns dort alles ganz anders vorgestellt. Als erstes war man dort nicht einverstanden damit, dass er sich schon als fast erwachsen ansah. Dann gab es dort keine Ambulanz für die Mucoviszidose-Behandlung. Es wurde dort stationär aufgenommen. Jetzt hieß es weiter suchen. Jan fing an, zu drängeln. Er wollte nun wissen, was jetzt weiter geschehen werde Auch mich machte die ganze Sache allmählich nervös. Doch nach außen hin gab ich mich gelassen. Jan sollte nicht merken, wie nervös ich war. Also redete ich mir wie schon so oft ein, dass sich schon etwas finden ließe: „Immer mit der Ruhe. Kommt Zeit, kommt Rat!“ So war es dann auch. Wir fanden Kontakt zu einem weiteren Arzt in Hamburg. Da Jan sehr überzeugend seine Argumente gegen die eigentlich altersgemäße Behandlung im Kinderkrankenhaus formulierte, übernahm dieser Doktor die Behandlung. Nicht nur Jan hat erleichtert, die Praxis verlassen. Nachdem jetzt feststand, welcher Arzt Jan weiter betreut, konnte Jan im Sommer 1996 die nächste Kur antreten.
Im Jahr 1997 gab es Schwierigkeiten bei der Buchung des notwendigen Kuraufenthaltes. Jan hatte schon gedrängelt, weil ein Gerücht die Runde machte, dass die Kurplätze für den Sommer 1997 schon ausgebucht seien. Vorstellen konnte ich es mir nicht. Doch leider bestätigte sich das Gerücht. Als Ausweichtermin wählte Jan den 03.04.1997. Da die Ferien drei Wochen dauerten, musste er etwa noch zwei Wochen in der Schule fehlen. Jan fühlte sich in der ganzen Kur recht wohl. Er hatte sich mal wieder - in den letzten Jahren immer öfter - mit Mädchen angefreundet. Ich wurde sehr wenig gebraucht. Es wurde zum ersten Kuraufenthalt, bei dem auch ich mich wirklich erholen konnte. Der Abschied war schon etwas Besonderes. Jan ist morgens mit den anderen zur Fähre gefahren, um allen noch einmal zuwinken zu können. Wir hatten eine spätere Fähre gebucht.

Seit 1996 gingen wir nun regelmäßig in die ambulante Praxis des neuen Arztes. Die stationären Behandlungen fanden wieder im Altonaer Kinderkrankenhaus statt. Das gefiel Jan zuerst überhaupt nicht, weil er meinte, dass der dortige Arzt noch zu wenig von der Mukoviszidose verstünde. Doch wie sich dann gerade dieser Doktor in die für ihn neue Materie hineingekniet hat, hatten wir bei noch keinem anderen Arzt erlebt.
Wie bereits in den Jahren zuvor musste Jan im März 1997 erneut in das Zentrum für Transplantationsmedizin nach Berlin fahren. (Anmerkung: Die jahrelangen Infektionen der Lunge zerstörten das Lungengewebe. In Berlin wurde er untersucht, mit dem Ziel ihn frühzeitig zur Herz-Lungen-Transplantation anzumelden, CG). Wir sind am 06.03.1997 nach Potsdam gefahren und haben bei Freunden übernachtet. Am nächsten Tag wurde ein Blutbild erstellt und einen Lungenfunktionstest durchgeführt. Der zuständige Arzt sprach noch mit uns. Die gesamten Ergebnisse fand er nicht sehr berauschend. Also teilte er Jan mit, dass er ihn im Oktober des gleichen Jahres wieder sehen wollte. Dann müsste eine Herzkatheteruntersuchung gemacht werden. Es wäre an der Zeit, dass Jan auf die Transplantationsliste käme. Jans Untersuchungsergebnisse hätten sich erheblich verschlechtert. Die Kur des Jahres 1997 fand nun also im April und Mai statt.


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Der 29. Oktober 1997
Der Abschied

Der 29. Oktober 1997
Im Herbst 1997 wurde Jan erneut stationär aufgenommen. Am 29.10.97 wurde ich gegen 10.15 Uhr aus dem Krankenhaus angerufen. Ich hörte nur, wie der Arzt sagte, dass Jan einen CO-2 Gehalt von 72% habe (Anmerkung: bei chronisch Kranken wie Jan besagt dieser Wert, dass sich die bestehende chronisch „respiratorische Insuffizienz“ akut verschlechtert hat und intensivmedizinische Maßnahmen notwendig werden. Bei der „respiratorischen Insuffizienz“ werden die Lungenbläschen ungenügend belüftet, was zu Minderversorgung des Körpers mit Sauerstoff führt, CG) Ich ließ sofort alles stehen und fuhr ins Krankenhaus. Es wäre für mich unerträglich gewesen, nicht rechtzeitig bei Jan anzukommen. Für Jan war es von Anfang an klar, dass er früher sterben würde, als andere Menschen. Doch der Gedanke war für ihn unerträglich, sich nicht verabschiedet zu haben. Auf der Station ankommend, sah ich schon, was los war. Der Arzt saß bei Jan und unterstützte ihn beim Atmen. Natürlich sah Jan bei meinem Eintritt meine verheulten Augen. Da Jan das von mir kannte, wenn ich verzweifelt war, fragte er erst gar nicht danach. Vor der Tür erläuterte mir der Arzt die prekäre Situation. Da ich in den ganzen Jahren etwas von der medizinischen Seite mitbekommen hatte, brauchte er mir eigentlich nicht viel zu sagen. Wir konnten nicht mehr viel machen. Es verblieb uns nur noch, Jans Atmung ein wenig zu unterstützen. Ich ging wieder zu Jan und fragte ihn, ob ich etwas für ihn tun könne. Nachdem er verneinte, fragte er mich, ob er sterben müsse. Es hätten alle verweinte Augen. Ich antwortete ihm nur, dass wir ihm so gerne helfen würden, doch wir könnten ihm das Atmen nicht abnehmen. Es würde jetzt an ihm liegen, zu kämpfen. Da der Arzt ihm dasselbe gesagt hatte, war er zufrieden. Ich glaube aber, dass er von seinem nahen Tod wusste.
Mir sind zwölf Stunden noch nie so kurz vorgekommen, wie an diesem Tag. Zwischendurch bin ich auch mal raus gegangen, dann hat sich eine Schwester zu Jan gesetzt. Der Arzt hat auch immer wieder gefragt, wie es Jan geht. Kurz nach 23 Uhr hat Jan dann den Kampf aufgegeben: Der Arzt stellte seinen Tod fest. Ich blieb dann noch einmal allein bei meinem Sohn und habe mich von ihm verabschiedet.


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Der 29. Oktober 1997
Der Abschied

Der Abschied
Nachdem alle Formalitäten mit dem Beerdigungsunternehmer besprochen waren, gab es am 03.11.1997 für die Angehörigen noch die Gelegenheit, Jan das letzte Mal zu sehen. Wenn ich nicht dabei gewesen wäre, als er starb, hätte ich gedacht, er würde mich an der Nase herum führen und gleich die Augen auf machen und sich kaputt lachen. Für mich war es ein Trost, dass sein Todeskampf nur noch ein paar Tage gedauert hat und Jan dann für immer seine Ruhe hatte. Nach all den Jahren, in denen er soviel über sich ergehen lassen musste, wünschte ich ihm jetzt nur dieses Eine. Für den Fall seines Todes hatte Jan auf einer Musikkassette ein Tagebuch besprochen. Unter anderem hatte er festgelegt, welche „weltlichen“ Lieder gespielt werden sollten. Es waren seine Lieblingshits. Auf eine kirchliche Beerdigung hatte er ausdrücklich verzichtet. Er hielt nichts vom Glauben, hatte ihn verloren. So sprach auch ein Redner die letzten Worte, einen Pastor hatte Jan nicht dabei haben wollen.
In der Kapelle wäre ich am liebsten nach vorne gelaufen und hätte den Sargdeckel geöffnet. Jan mochte doch keine engen Räume. Seinen Platz auf dem Friedhof hat er jetzt schon ein paar Jahre. Ich versuche, diesen Platz in jedem Jahr wieder so zu schmücken, wie Jan es vielleicht auch gerne gehabt hätte. Manches Mal dachte ich schon, dass seine Grabstelle fast so aussieht, wie bei ihm im Zimmer. Oft musste man auch über einige Dinge hinwegsteigen, um durchzukommen. Auf seinem Grab stehen viele Figuren und Blumen. Er mochte Stiefmütterchen immer sehr gerne. So oft es die Jahreszeiten erlauben, leuchten sie in allen Farben.
(Marlies Röser)

 

Kontakt zu Marlies Röser über: info@martinguse.de


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