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Kriminalbiologische Selektion
Innerhalb des menschenunwürdigen KZ-Alltages waren die jugendlichen Häftlinge mit den pseudowissenschaftlichen Beurteilungspraktiken der Mitarbeiter des „Kriminalbiologischen Institutes der Sicherheitspolizei (KBI)“ einer weiteren lebensbedrohenden Gefahr ausgesetzt. Mit dem Runderlass des Reichsministers des Innern (RMdl) vom 21.12.1941 war dieses Institut dem Reichskriminalpolizeiamt (RKPA) zwecks Erweiterung der Machtbefugnisse und der Intensivierung der polizeilichen Maßnahmen auf dem Gebiet der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ angegliedert worden. Dr. Dr. Robert Ritter - Leiter dieses „Institutes“ und zuvor als Wissenschaftler maßgeblich am Völkermord gegenüber Sinti und Roma beteiligt - definierte die Aufgaben des KBI gegenüber den zu „Gemeinschaftsfremden“ erklärten Jugendlichen folgendermaßen: „Das Wachsen und Werden von Verbrechern und Verbrecherstämmlingen läßt sich (...) von der Wurzel her (...) auf erbpflegerischem Wege verhindern. In der rassehygienischen Verbrechensbekämpfung liegt die große Zukunftsaufgabe der Kriminalbiologie.“ Zu den durch Runderlass festgelegten Aufgaben des KBI gehörte ausdrücklich auch die Sichtung und Selektion der in Moringen inhaftierten Jungen. Als Grundlage hierfür wurden zunächst sämtliche abrufbaren Daten der Jugendlichen (Lebenslauf, Führungsberichte, Gutachten, Fürsorgeakten etc.) zusammengestellt und aufgelistet. Bei den regelmäßig wiederkehrenden und schematisch vorbereiteten Befragungen der jungen Häftlinge waren für Ritter und seine Mitarbeiter/innen zur „Erforschung der Veranlagung“ Beruf und Erkrankungen der Großeltern und Eltern, der Pubertätsverlauf, die Schulzeit, der Beruf, die bisherigen Krankheiten des Jungen selbst, die Freizeitgestaltung und der gesellschaftliche Umgang von herausragender Bedeutung. So versuchte Ritter beispielsweise, bestimmte Berufssparten (Pagen, Boten, Hausburschen, Kinovorführer, Markthelfer, Hilfsschlosser in Autowerkstätten) in einen ursächlichen Zusammenhang mit kriminellen Neigungen zu stellen. Ritters in früheren Arbeiten entworfenes Raster, das ganze Personengruppen schablonisierte, ihnen stereotype Verhaltensweisen unterstellte und sie als Typus des „Asozialen“ und „Kriminellen“ schlechthin kennzeichnete, baute er in einer für das Lager Moringen spezifizierten Form aus. Die Beobachtungen, Untersuchungen und Beurteilungen an den Moringer Häftlingen wurden fortlaufend wiederholt und ergänzt. Ritter entwickelte zunächst unterschiedlich ausgerichtete Blocksysteme für beide Jugend-KZ, wobei er das System in Moringen erheblich ausdifferenzierte. Dabei ordnete er die einzelnen Häftlinge einer - auf seinen persönlichen Bewertungen und Charaktereinstufungen basierenden - Beurteilungsskala zu und kategorisierte sie in bestimmte "Menschentypen". (z.B. D-Block: Block der Dauerversager; S-Block: Block der Störer; U-Block: Block der Untauglichen usw.)
Die SS-Blockführer erstellten im halbjährlichen Turnus Führungsberichte über einzelne Häftling, die über die Lagerleitung an das KBI weitergeleitet wurden. Verfehlungen im Lager, wie Fluchtversuche, Lebensmitteldiebstähle, schlecht beurteilte Arbeitsleistungen oder Mängel beim Bettenbau und im Ordnungsverhalten vermerkten die Kriminalbiologen ebenso, wie alle ausgesprochenen und vollzogenen Lagerstrafen. In dieser Beurteilungs- und Kategorisierungspraxis wurde den Häftlingen die bedingungslose Unterordnung und die Fähigkeit und Bereitschaft zur Unterwerfung unter die im Lager herrschenden Verhaltensdoktrinen abverlangt. Jede Auflehnung der jungen Menschen gegen die Versklavung und jeden Versuch, sich die Lebensumstände im Lager durch nicht geduldetes Verhalten zu erleichtern, werteten die Kriminalbiologen als weiteren Beleg für „biologische Verworfenheit“. Robert Ritter betrieb seine pseudowissenschaftlichen Experimente mit lebenden Menschen. Er fand dabei im Jugend-KZ Moringen „die Fundgrube für das KBI...“, wie es der Landgerichtspräsident von Essen anlässlich eines Besuches in Moringen aus dem Jahr 1944 formulierte. Aufgrund seiner Beurteilungskategorien entschied der Kriminalbiologe über den weiteren Lebensweg der Inhaftierten. Entlassungen der jungen Häftlinge in die Freiheit stellten die Ausnahme dar. Weitere „Entlassungen“ erfolgten nach dem KBI-Urteil in Heil- und Pflegeanstalten mit einem ungewissen Schicksal für die Betroffenen, in Gefängnisse und Zuchthäuser, zum Reichsarbeitsdienst oder zur Wehrmacht. Des weiteren veranlassten Ritter und seine Mitarbeiterinnen mindestens 55 Überstellungen in Groß-KZ und regten Sterilisierungen an, die dann - vom Lagerarzt und dem Kommandanten beantragt - Ärzte in der Universitätsklinik Göttingen vollzogen. Aus den vorliegenden Berichten des RKPA ist zu entnehmen, dass aufgrund der erb- und kriminalbiologischen Prognose der „Wissenschaftler“ mindestens 123 Jugendliche aus den beiden Jugendlagern Moringen und Uckermark in ein Erwachsenen-KZ verschleppt wurden.

Dr. Dr. Robert Ritter