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Haftgründe
Nach einem Bericht der Lagerleiterin Lotte Toberentz aus dem Jahr 1945 lebten von den ersten 500 Häftlingen 288 Mädchen vor ihrer Haft in Uckermark in Fürsorgeerziehungsanstalten, 220 Mädchen litten an einer Geschlechtskrankheit, 125 waren einmal, 64 zweimal und 52 dreimal vorbestraft. Auch für das Lager Uckermark fällt in den vorliegenden Anträgen auf Unterbringung in beiden Jugendlagern vor allem die Reduzierung der darin getroffenen Aussagen auf negativ besetzte Verhaltensweisen oder Eigenschaften der Betroffenen auf. Das eigene pädagogische Versagen ausblendend, blieb es den jeweiligen Sachbearbeitern in den Heimen und FE-Behörden, bei der Polizei oder den Gerichten vorbehalten, das jugendliche Verhalten als „gemeinschaftsfremd“ bzw. „asozial“ und die betroffenen Mädchen als „erziehungsfähig“ bzw. erziehungsunfähig“ zu definieren, wobei eine klare Abgrenzung oder Definition dieser Begriffe nicht vorgegeben war. Vorgegangen wurde beispielsweise gegen solche Jugendlichen, die als erblich belastet eingestuft wurden, wie beispielsweise Amalie S. aus München. Nach zwei Vorstrafen wegen Diebstahls und dem Aufenthalt in der Fürsorgerziehung war die Jugendliche erneut auffällig geworden. Wegen fortgesetzten Diebstahls zu Gefängnis von unbestimmter Dauer verurteilt, beantragte das Jugendamt München im September 1942 die Unterbringung im „Jugendschutzlager“, denn sie entstamme „...ungünstigen Familienverhältnissen, ihre Eltern sind vorbestraft, ihre verbrecherische Neigung wird daher auf Erbanlagen beruhen.“ Amalies Lebensweg wurde von den Justizbehörden zu einer Beschwerde über die mangelnde Beteiligung der eigenen Instanzen herangezogen, die angestrebte Lagerhaft gleichwohl nicht kritisiert: Das Mädchen verschleppte man schließlich nach Uckermark. Sie blieb dort bis zur Teilauflösung des Lagers im Januar 1945. Ihr Name findet sich in der Liste von 211 Jugend-KZ-Häftlingen, die am 24.01.1945 von Uckermark in das Frauen-KZ überstellt worden sind. Amalies weiterer Lebensweg ist nicht bekannt.

Edith
Sophie
Paula (mitte)
     
Stanka
Erna
Katharina

Eine weitere, größere Häftlingsgruppe im Lager bildeten die jungen Frauen, denen in der Fürsorgeerziehung neben weiteren Auffälligkeiten vor allem ein Fehlverhalten im Bereich ihres Sexuallebens attestiert wurde. Die Beurteilungskategorie „sexuelle Verwahrlosung“ - seit Jahrzehnten die zentrale Thematik in der Arbeit der deutschen Fürsorge gegenüber Mädchen - geriet im Nationalsozialismus in Symbiose mit dem Selektionskriterium der „Unerziehbarkeit“ zur tödlichen Bedrohung für die betroffenen Mädchen. Den ideologisch vorgegebenen Geschlechterrollen und dem Ideal der „deutschen Hausfrau und Mutter“ nicht entsprechend, wurden Prostitution und wechselnde Sexualpartnerschaften von Mädchen nunmehr als „moralischer Schwachsinn“ definiert. Außereheliche und selbstbestimmte Sexualität einerseits negierend, andererseits etwaig notwendig werdende fürsorgerische Hilfen ausschließend, boten Fürsorge und nazistischer Verfolgungsapparat ihre gesamten Ermittlungstechniken zur Aufdeckung sexuell abweichenden Verhaltens auf und offenbarten gleichzeitig eine perfide Doppelmoral, die allein das weibliche Verhalten zum Verfolgungsgegenstand machte und die Rolle der männlichen Geschlechtspartner gleichwohl außer acht ließ. So beantragte beispielsweise das Jugendamt Ratibor am 14.09.1944 die Inhaftierung von Franziska B., 1924 geboren, in Uckermark. Am 09.02.1943 aus der Fürsorgeerziehung entlassen, hatte die Jugendliche eine Arbeitsstelle als Hausangestellte kurzfristig verlassen. Nach dem Verlust drei weiterer Arbeitsstellen und einer Vorstrafe wegen Diebstahls fiel die junge Frau dem Jugendamt wegen einer Geschlechtserkrankung auf. Die weiteren Ermittlungen ergaben, „...dass Franziska B. wechselnden Männerverkehr hat. Die Hauswirtin meldet, dass zu verschiedenen Tagesstunden immer wieder andere Soldaten und auch Zivilpersonen die Minderjährige besuchen.“ Der Antrag auf Unterbringung in Uckermark wurde folgendermaßen begründet: „... sodass die Minderjährige eine grosse sittliche Gefahr für ihre Umwelt bedeutet, und zumal auch Wehrmachtsangehörige bei ihr aus und ein gehen auch eine Gefährdung und Schädigung der Wehrmacht vorliegt.“

Die wohl größte Zahl der Häftlinge stellten die Mädchen, die wegen „Geschlechtsverkehrs mit fremdvölkischen Staatsangehörigen“ und per Schutzhaftbefehl der Gestapo verhaftet worden waren. Aus diesem Grund wurde die 1923 geborene Liesbeth S. zunächst in der „Landesarbeitsanstalt“ Breitenau interniert. Am 14.03.1942 erfolgte die Anordnung der Schutzhaft und am 02.11.1942 die Überstellung in das Jugend-KZ Uckermark.

Wie in Moringen, so waren die Haftgründe auch im Jugend-KZ Uckermark äußerst vielschichtig und reichten von pädagogischen Bankrotterklärungen („Unerziehbarkeit“, „Renitenz“, Kriminalität, „sexuelle Verwahrlosung“) bis zum Vorwurf der „Arbeitsverweigerung“, „Arbeitsbummelei“ oder „Sabotage“. Unter Federführung des Referates „Weibliche Kriminalpolizei“ beim RKPA inhaftierte die deutsche Polizei aus eugenischen (Behinderte, Zwangssterilisierte) und rassischen Gründen. So verweisen diverse Aktenunterlagen und zudem auch die Aussagen ehemaliger Häftlinge des Lagers darauf, dass in größerer Zahl auch junge Sintezza und als „Judenmischlinge“ verfolgte Mädchen in Uckermark inhaftiert wurden.
Gestapo und SS wiederum richteten ihre Verfolgungsmechanismen gegen „Widersetzlichkeit“ und konkrete Widerstandshandlungen Jugendlicher. So wurden über 40 junge Frauen aus dem österreichisch-slowenischen Grenzgebiet, die der dortigen Partisanenbewegung angehörten oder der Unterstützung dieses Widerstandes bezichtigt worden waren, in Uckermark inhaftiert. Andere oppositionell eingestellte junge Frauen inhaftierte man ebenso per Schutzhaftbefehl, wie die damals 14-jährige Eva R.. Mit der Häftlingsnummer 198 war sie eine von mehreren Anhängerinnen der englisch-amerikanischen Swingmusik, die wegen ihrer Zugehörigkeit zur Hamburger „Swing-Szene“ ins Lager Uckermark verschleppt worden waren. So erhielt auch das sog. „Jugendschutzlager“ Uckermark vollends die Ausprägung eines allgemeinen Konzentrationslagers für weibliche Minderjährige.